1929 lud der Osnabrücker Regierungspräsident Dr. Adolf Sonnenschein Pressevertreter aus dem gesamten Deutschen Reich ein, um auf die große Not des bisher „unentdeckten Emslandes“ und seiner Nachbarregionen hinzuweisen.
“Armes Emsland” – Bericht 1 (von 7) über die Besichtigungsfahrt durch deutsche Pressevertreter 19291 beschreibt eine eindrucksvolle Reise durch das Emsland. Lassen Sie uns in diese historische Zeit eintauchen:
Am 1. Mai 1929 startete die Besichtigungsfahrt von Osnabrück aus. Die Gäste, von der Handelskammer geladen, begaben sich auf eine Reise, um das Emsland genauer zu erkunden. Doch das Wetter spielte nicht mit – bereits zu Beginn setzte Landregen ein, der im Laufe des Tages immer stärker wurde und das Programm erschwerte. Die Route führte von Osnabrück über Westerkappeln in den Kreis Bersenbrück. Dort wurde die nach dem Landrat benannte Siedlung Rotherthausen sichtbar – ein Sinnbild des Kampfes zwischen Moor und Acker. In Wettrup, Landkreis Lingen, besichtigte man das erste Heuerlingshaus. Die Wohnbedingungen waren erschreckend: baufällige Häuser, ungesunde Bauart und Notlagen. Selbst armselige Schlafbutzen wurden gezeigt.
Weiter ging es über Herzlake in den Kreis Hümmling, wo sich das ergreifendste Bild der Fahrt offenbarte. Baufällige Hütten mit durchlöcherten Strohdächern, schwindsüchtige Menschen, minimales Einkommen und jämmerliche Wege prägten das Bild. Das Emsland wirkte eingeengt, wirtschaftlich zurückgeblieben und vergessen.
Die Fahrt führte zur Fürsorgeanstalt Johannesburg bei Papenburg, wo zu Mittag gegessen wurde. Dann ging es über Börger, Wippingen und Neudersum im Kreis Aschendorf weiter. Auch hier sah man schlechte Häuser neben neu geschaffenen Siedlungshäusern. Plötzlich änderte sich das Bild, als die Wagen nach Holland hineinrutschten. Obwohl dort teilweise größere Arbeitslosigkeit herrschte als in Deutschland, zeigte sich eine Jahrhunderte alte Moorkultur. Der Boden war fruchtbar gemacht, freundliche Häuser standen, und Wohlstand verbreitete sich. Ein gewaltiger Unterschied zum angrenzenden Deutschland!
Die Rückfahrt entlang des Nord-Süd-Kanals musste leider ausfallen, da die Sandwege zu matschig und grundlos waren. So endete die Reise über Meppen und Lingen in Nordhorn. Schöningsdorf bot das traurigste Bild des Emslandes – eine Landschaft, arme Kreise und arme Einwohner,“
Osnabrücker Zeitung vom 1. Mai 1929

Emslandnot!
Von einer „Emslandnot” hatte die große Oeffentlichkeit namentlich in der östlichen Hälfte des Reiches und ganz besonders in Berlin bisher noch kaum etwas vernommen. Daher horchte man überrascht und einigermaßen ungläubig auf, als vor wenigen Tagen im Reichstag Hilfe aus öffentlichen Mitteln für das kulturell vernachlässigte Emsland nachdrücklich gefordert wurde.
… Ein großer Teil des Emslandes, und zwar 75.000 Hektar, sind heute noch mit Moor und Heide bedeckt. … Tatsächlich haben wohl nur die wenigsten Teilnehmer dieser Fahrt in dieser äußersten Nordwestecke des Reiches Zustände vermutet, wie man sie jenseits unserer Ostgrenze in verluderten polnischen Dörfern findet. Die Wohnungsverhältnisse der Kleinbauern und Heuerlinge spotten vielfach selbst den primitivsten hygienischen Anforderungen und können ohne Uebertreibung nur als menschenunwürdig bezeichnet werden. Die Leute leben zum Teil in Häusern, die ihnen über dem Kopfe zusammenzustürzen drohen, deren mit Heidekraut gedeckte Dächer an vielen Stellen eingesunken sind und Wind und Regen ungehindert Zutritt gewähren. Wie die Berichte der Ortspolizeibehörden besagen, sind im Emsland rund 3500 Familien unzureichend untergebracht. Dieses „unzureichend” ist ein sehr milde gewählter Ausdruck für diese jämmerlichen Hütten, deren besonders hervorstechendes Merkmal die sogenannten Butzen sind, eingebaute niedrige Schlafschränke ohne Zugangsmöglichkeit für Luft und Licht, die gegebene Brutstätten für die im Emsland stark verbreitete Tuberkulose. In einem Heuerhause, das besichtigt wurde, schlafen in zwei solchen engen Butzen die Eltern, zwei Söhne im Alter von 19 und 15 Jahren und sechs Töchter im Alter von 21 Jahren bis herab zu einem drei Monate alten Säugling. Im Kreise Aschendorf zählt man noch heute 747 Häuser mit 1500 solcher Butzen, im Kreise Bentheim noch über 800 … Für die Entfernung dieser Butzen und ihrer Ersetzung durch Bettstellen werden vom Kreise, von den Gemeinden und von der Landesversicherungsanstalt Prämien von 100 Mark ausgesetzt. Wie gerechtfertigt diese Notstandsmaßnahme ist, zeigen die Zahlen der tödlich verlaufenden Tuberkulosefälle: allein im Kreise Meppen kamen 1925 auf 10.000 Einwohner 15 Tuberkulose-Tote, während die Durchschnittszahl in Preußen 10,93 auf 10.000 Einwohner beträgt. …
Die Ernährungsweise der ländlichen Bevölkerung ist außerordentlich armselig, das tägliche Gericht sind für weite Kreise Kartoffeln und Brei. Die in den Wohnräumen von den morschen Deckenbalken herabhängenden Speckseiten können darüber nicht hinwegtäuschen: sie stellen den Fettnahrungsbedarf einer Familie für das ganz Jahr dar …
Der Boden, soweit er nicht dem Moore abgerungen werden muß, besteht größtenteils aus stark sandigen oder lehmigen Grünländereien, deren Anbauwert durch den seit Jahrhunderten immer wiederholten einseitigen Roggenanbau noch verschlechtert worden ist und unter Aufwendung erheblicher Arbeit und Geldmittel, besonders für künstliche Düngung, langsam behoben werden kann. Nicht weniger ungünstig sind die wasserwirtschaftlichen Verhältnisse des Emslandes. Nicht nur die Ems, sondern auch die übrigen kleineren Wasserläufe befinden sich zum großen Teil noch in ungeregeltem Zustande. Dadurch, daß die vorhandenen Entwässerungsgräben die großen Wassermengen aus dem regenreichen Gebiet nicht entfernt aufnehmen und ableiten können, ereignen sich im Frühjahr und Herbst häufig große Ueberschwemmungen, die oft den völligen Verlust der Grünfutterernte zur Folge haben.
Nun die Verkehrsverhältnisse: … Da die infolge der ungünstigen Bodenverhältnisse leistungsschwachen Gemeinden keine größeren Mittel für den Bau von Straßen aufwenden konnten, sind im Emsland heute noch 112 Gemeinden ohne befestigte Straße und können die nächste Landstraße nur auf Sand- und Moorwegen erreichen, die bei Regenwetter völlig unpassierbar sind, wovon sich die Teilnehmer an der Besichtigungsfahrt durch eigenen Augenschein überzeugen konnten. Es ist vorgekommen, daß Verstorbene wochenlang in ihrer Wohnung liegen bleiben mußten, da der Zustand der Wege es unmöglich machte, sie nach einem Friedhof zu bringen. Ganz besonders übel sieht es in dieser Beziehung im Kreise Hümmling aus, der weder eine Bahnstation noch auch nur einen Kilometer Provinzialstraße aufzuweisen hat. Im Kreise Meppen sind noch 46 Prozent aller Gemeinden ohne jeden Anschluß an eine befestigte Straße. Zu allen diesen Uebel tritt die Ungunst der an sich milden klimatischen Verhältnisse. Selbst in den wärmsten Sommermonaten begünstigen die Moor- und Sandböden das Auftreten von Nachtfrösten, so daß kaum ein Monat des Jahres vollkommen frostfrei bleibt.
Wenn man den Fuß über die holländische Grenze setzt, dann offenbart sich erst in geradezu beschämender Weise die Vernachlässigung des deutschen Emslandes … Das Bourtanger Moor, das sich vom Emsland aus weit in holländisches Gebiet erstreckt, ist jenseits der deutschen Grenze restlos kultiviert, während es auf deutscher Seite eine melancholisch stimmende, düstere Einöde ist, der nur hier und dort menschliche Unternehmungslust Ackerland abgerungen hat. …”
Quelle: Franz Kunzendorf, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Berliner Ausgabe, Nr. 206 vom 05.05.1929.

Eindrücke einer Emslandfahrt
„… Vergessen hat man das Emsland, nicht erst seit heute und gestern, sondern seit Jahrzehnten. Verlassen vegetiert es im Nordwestzipfel des Reiches, unbekannt und ungenannt; und über dem Aufschwung einiger Städte (wie Nordhorn, Schüttorf, Lingen, Papenburg) verschwand aus dem Gesichtskreis die ungeheure Armut und Not des Hinterlandes, das so umfangreich ist wie kein zweites innerhalb der Reichsgrenzen, das solche Verhältnisse aufweist. …
Eingekeilt als enger Korridor liegt das Emsland zwischen fremden, teils fremdstaatlichen Verwaltungsbezirken. Im Westen Holland, dessen Grenze wie mit dem Lineal gezogen mitten durch die Moore läuft, im Norden der Regierungsbezirk Aurich, östlich Oldenburg und im Süden Westfalen. Nur wenige Bahnen durchfahren das Gebiet: parallel der Ems die Strecke Rheine-Papenburg, im südlichen Zipfel Rheine-Amsterdam, dann Bentheim-Coevorden (Holland), Meppen-Löningen (Oldenburg) und die Hümmlinger Kreisbahn, abzweigend von der großen Nordsüdlinie (bei Lathen) bis zwei Kilometer vor die Oldenburger Landesgrenze; dann nimmst du deinen Koffer unter dem Arm und wanderst die fehlenden Kilometer bis zum nächsten oldenburgischen Bahnhof! …
Das Emsland, umfassend die Kreise Aschendorf, Hümmling, Meppen, Lingen und Bentheim, zählt auf 392.000 Hektar Bodenfläche 171.000 Bewohner. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte auf 1 Quadratkilometer beträgt also 43,61 Einwohner (im Regierungsbezirk Osnabrück 69,18, Provinz Hannover 82,69, Preußen 130,69, 131,1 im Reich). Der Kreis Hümmling mit 26,39 Einwohner auf 1 Quadratkilometer ist der menschenärmste preußische Landkreis. Eben dieser Kreis hat auch die größte Oedfläche: 27 Proz. seiner Fläche ist noch unkultiviert: in Meppen sind es 25 und in Aschendorf 20 Proz. des Kreisgebietes. Im Emslande insgesamt liegen rund 32.000 Hektar Heide und 42.000 Hektar Moor, das sind 19 Proz. des gesamten Landes, noch ungenutzt. …
Grau in grau hing der Himmel, und unaufhörlich rieselte der Regen, als am Montag in der Frühe die Autokolonne sich von Osnabrück aus in Marsch setzte. … Erster Eindruck war Wettrup, wo das Wohnhaus eines Kleinbauern besichtigt wurde, war Ost-Lähden, das abseits der Straße eine Häufung verwahrloster, trostloser Häuser ist. Zwei Seiten der Emslandnot wurden hier – und später immer wieder – deutlich: die Wohnungsnot und die Verkehrsnot. Die Wohnverhältnisse sind geradezu menschenunwürdig, namentlich die Heuerleute, aber auch die Kleinbauern leben zum Teil in Häusern, die von Tag zu Tag einzufallen drohen …. In Ost-Lähden kam sofort der Vergleich mit einer Buschmänner-Siedlung auf, so primitiv, so verfallen, so elendiglich war das Gewirr dieser Gebilde aus Lehm und Stroh, denen man den Namen „Wohnhäuser” gegeben hat. Im Bentheimer Moor sahen wir Häuser, die nach einer Reihe von Jahren immer wieder gehoben werden mußten, da sie im Moor versinken. Durch Wand und Dach regnet es herein, die Fenster sind entzwei. … Von den 4000 Wohnungen des Kreises Hümmling sind die Hälfte feucht, ungesund und kaum bewohnbar. In zahlreichen Fällen besteht die Wohnung nur aus einer großen Küche, vereinzelt auch aus einer Küche und einem Schlafraum, in die eine entsprechende Anzahl von Schlafschränken (sog. Butzen) eingebaut sind. In solchen Wohnstätten mit 1 oder 2 Räumen befinden sich häufig Familien von 8, 10 oder sogar noch mehr Personen. In einem Heuerlingshaus in Scheerhorn (Kreis Bentheim) schlafen in einer 12 Quadratmeter großen Schlafstube, neben der nur eine Küche vorhanden ist, in zwei Butzen die Eltern, 2 Söhne im Alter von 19 und 15 Jahren und 6 Töchter im Alter von 21 Jahren bis 3 Monaten. Die Zahl der Butzen ist noch ungeheuer groß, obwohl für ihre Beseitigung eine Prämie gezahlt wird. Ihre größere Mehrzahl ist den Behörden nicht bekannt, und nur ein kleinerer Teil der vorhandenen Butzen kommt zur Kenntnis. So sind im Kreis Hümmling 210, im Kreis Meppen 200, im Kreis Bentheim 969 (!), im Kreis Aschendorf rund 1500 (!) Butzen gemeldet.
Wundert man sich bei diesen Wohnungsverhältnissen, wenn Krankheiten und Seuchen Tür und Tor geöffnet sind? Schon im Jahre 1913 stellte Prof. Jacobsen fest, daß in einem Hümmlinger Dorf jede Familie tuberkulosekrank war. Hoch über dem Durchschnitt liegen hier die Sterblichkeitsziffern an Tuberkulose … Wie hoch mag die wirkliche Ziffer sein? Denn die Bewohner hüten ängstlich das Geheimnis und wollen unter keinen Umständen die Erkrankung bekanntwerden lassen.
Ein weiteres Kapitel ist die ungeheure Verkehrsnot dieses Gebietes … Die Autos hatten auf der Fahrt die allergrößte Mühe, und bis an die Achsen versanken sie stellenweise im Schlamm. Immer noch sterben Menschen, weil die fürchterlichen Wegeverhältnisse den Arzt gar nicht oder nicht rechtzeitig ins Krankenzimmer kommen lassen. Die wirtschaftliche Stagnation bleibt natürlich nicht aus, wenn z.B. wegen dieser schlechten Straßen die Anfahrt der Milch anderthalb mal so teuer kommt wie im benachbarten Holland. … Der Kreis Meppen verbraucht fast seine gesamten Steuern für das Straßennetz; dabei sind von seinen 63 Gemeinden 29 überhaupt noch nicht an eine besteinte Straße, 16 nur teilweise und nur 18 völlig angeschlossen. Diese paar Ziffern dürften zur Genüge erweisen, daß bei solchen Ausgaben für die Straßenunterhaltung an Neuanlagen kaum zu denken ist und andere wichtige Aufgaben fast völlig zurückstehen müssen (Kreis Meppen hat z.B. keine Tuberkulosefürsorgestelle, keine Säuglingsfürsorgestelle, keine Schulkinderuntersuchungen!).
… Zu diesen armen Böden treten die ungünstigen wasserwirtschaftlichen Verhältnisse. … Die Folgen sind häufige Ueberschwemmungen im Frühjahr und Herbst, oft auch im Sommer bei länger anhaltenden Regenperioden, dadurch Verringerung der Ernten mit oft völligem Verlust der Grünfutterernten, dadurch wieder mangelhafte Erträge der Viehzucht und die Notwendigkeit der Aufnahme hochverzinslicher Kredite zum Ankauf des fehlenden Futters. Diese alljährlich wiederkehrenden erheblichen Schäden erreichen in einzelnen Kreisen die enorme Höhe von 1-2 Millionen Reichsmark jährlich.
Daß eine unter solchen erbärmlichen Gegebenheiten lebende Bevölkerung, die sich überwiegend aus Kleinbauern und Heuerleuten zusammensetzt, von der allgemeinen Agrarkrisis ungleich schwerer getroffen wird als andere Landesteile, liegt auf der Hand. … Die Ernährung der ländlichen Bevölkerung ist äußerst karg; Kartoffeln und Brei sind das tägliche Mittagessen in weitesten Schichten. Die Verbitterung der Moorbewohner nimmt täglich zu; die dumpfe Resignation wächst: in sich verschlossen, am Alten hängend und mißtrauisch allen und jedem Fremden gegenüber sitzen sie auf ihrer armen Scholle. Die seit Generationen währende Armut hat sie auch körperlich und geistig zurückbleiben lassen; stumpf und apathisch hocken sie in ihren elenden Behausungen und nur schwer öffnet sich der Mund, um im harten Dialekt des Emslandes Auskunft zu geben. …
Das Emsland hat auch blühende Städte, wo eine starke Industrie Armut in so Riesenausmaße nicht aufkommen läßt. Wir sahen die großen, wichtigen Textilbetriebe von Nordhorn, die Tausenden Brot und Arbeit geben, wir sahen die gesunden Siedlungen dieser Stadt, hörten von fortschrittlichen Plänen und Absichten, …”.
Quelle: Hans J. Contzen in: Osnabrücker Volkszeitung Nr. 123 vom 05.05.1929.
