Von Nina Kallmeier
Ein Beitrag der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 22.02.2025
Interview mit Thomas Michels, Vorstand der Division Benteler Steel/Tube, zu der auch das Stahlwerk in Lingen gehört.
Welche Auswirkungen haben hohe Energiepreise auf die Produktion im Elektrostahlwerk in Lingen – und ist Wasserstoff wirklich eine Alternative? Unter anderem darüber spricht Thomas Michels, Vorstand der Division Benteler Steel/Tube im Interview.
Mit seinem Elektrostahlwerk in Lingen hat sich Benteler Steel/Tube auf den Weg gemacht, grünen Stahl zu produzieren. Doch hält das Unternehmen angesichts hoher Energiekosten an seinen Klimazielen fest? Im Interview spricht Vorstand Thomas Michels unter anderem über Mehrkosten, den Einsatz von Wasserstoff und inwieweit der Standort in Lingen sicher ist. Das Interview im Wortlaut:
Herr Michels, das Stahlwerk in Lingen ist einer von fast 90 Standorten des Benteler-Konzerns weltweit. Wie wichtig ist es?
Unsere Division Steel/Tube, zu der auch der Standort Lingen gehört, hat einen Anteil von rund 20 Prozent am gesamten Benteler-Konzern. Das heißt, unternehmensweit betrachtet spielt der Standort eine eher kleinere Rolle. Allerdings beliefern wir aus unserem Stahlwerk vor allem unsere beiden Walzwerke in Dinslaken und Paderborn, für die Division Steel/Tube ist Lingen somit essenziell. Auch externe Kunden im Ruhrgebiet, im europäischen Ausland sowie in den USA beliefern wir. Hinzu kommt: Unser Werk in Lingen ist ein Elektrostahlwerk. Wir produzieren dort Stahl aus recyceltem Schrott und leisten damit einen nachhaltigen Beitrag zur Kreislaufwirtschaft.
Wie ist die Auslastung in Lingen? Für welche Industrien wird vor allem gefertigt?
Im Moment sind wir in Lingen gut ausgelastet. Was uns traurig stimmt, ist, dass es sich aufgrund der Zollsituation derzeit nicht lohnt, in die USA zu liefern. Was die Kunden angeht, sind wir sehr breit aufgestellt – und das hilft uns. Wir beliefern ungefähr zu 30 Prozent die Automobilindustrie. Dem Bereich geht es aktuell schlecht, aber „planbar schlecht“, sodass man sich mit der Produktion gut darauf einstellen kann. Ungefähr 50 Prozent der Produktion gehen ins Industrieumfeld, also in Kräne, Bagger, Gebäude, Brücken. Zu 20 Prozent fertigen wir für den Bereich Energie, also den Kraftwerksbau, die Öl- und Gasförderung, den Leitungsbau. Diese beiden Geschäftsfelder sind deutlich volatiler als die Automobilindustrie. Da ist die Vorschau für uns derzeit nicht länger als zwei bis drei Monate möglich.
Für das Elektrostahlwerk vor allem Strom benötigt. Wie stark belasten steigende und schwankende Strompreise die Produktion?
Wenn wir den reinen Spotmarkt sehen, dann hat Strom vor dem Ukraine-Krieg zwischen 30 und 38 Euro die Megawattstunde gekostet. 2024 waren es im Schnitt 83 Euro. Und die Netzentgelte, die noch hinzukommen, haben sich verdoppelt. Alleine im Spitzenjahr 2022 haben wir rund 100 Millionen Euro mehr für Energie ausgegeben als zuvor. Das ist eine Hausnummer. Mittlerweile hat sich das etwas relativiert, aber die Preise liegen immer noch höher als zuvor.
Wobei Benteler zwar von Preisspitzen betroffen ist, andererseits aber auch von Negativpreisen profitiert.
Natürlich. Dennoch hatte das letzte Jahr einen Durchschnittspreis am Spotmarkt von 83 Euro. Im Sommer war der Preis teils negativ, wenn die Sonne lange schien. Als im Herbst Sonne und Wind nicht zur Verfügung standen, wurden aber auch 300 bis 400 Euro die Megawattstunde aufgerufen. Durch den Zubau der regenerativen Energien wird die Volatilität im Strompreis deutlich massiver als in der Vergangenheit – nach unten wie nach oben.
Da stellt sich die Frage: Wie lange ist eine Produktion wirtschaftlich? Haben Sie 2024 und in diesem Jahr den Ofen abgestellt?
Seit im vierten Quartal 2024 der Börsenstrompreis einmal auf fast 2000 Euro die Megawattstunde hochgeschossen ist und wir durchproduzieren mussten, schauen wir jeden Abend gezielt, wie sich der Strompreis am nächsten Tag entwickeln wird. Wir haben Orderlimits eingezogen. Das heißt: Steigt der Strompreis über ein gewisses Niveau, schalten wir ab. Das war in der zweiten Jahreshälfte mehr als einmal der Fall, ebenso wie im Januar 2025. Wir waren aber auch, wie viele andere Stahlproduzenten, nicht immer ausgelastet. Auch dann bietet sich das Abschalten insbesondere unter der Woche, wenn die Preise hoch sind, an. Sind die Auftragsbücher voll, produzieren wir immer.
Manch ein Unternehmen schaut, insbesondere mit Blick auf die Strompreise, in die USA. Wie wichtig ist das Land für Benteler Steel/Tube?
Sehr wichtig. Wir haben vor rund zehn Jahren massiv in den USA investiert und ein komplett neues Walzwerk gebaut. Heute zählt unser Standort in Shreveport zu den modernsten und effizientesten Werken im ganzen Land. Vergangenes Jahr haben wir dort beispielsweise weitere rund 20 Millionen Euro in eine neue Gewindeschneideanlage investiert, mit der wir unsere Rohre noch zielgerichteter bearbeiten können. Das Werk wird allerdings mit zugekauftem Stahl versorgt, da das Thema Zölle das Versenden aus Deutschland nicht lukrativ macht. Es gab damals auch Überlegungen, ein Stahlwerk dazu zu bauen. Das haben wir bis heute aufgrund von schwankenden Märkten in den USA nicht getan.
Wir haben seit Beginn eine gültige Genehmigung und dürften theoretisch jederzeit bauen. Mal denkt man etwas mehr, mal ein bisschen weniger darüber nach. Allerdings wäre es ein hoher Finanzierungsaufwand. Das muss man einbeziehen. Und man muss auch in Betracht ziehen, wie sich das Land insgesamt entwickelt. Heute erhebt Trump Zölle gegen Kanada, Mexiko, morgen nimmt er sie wieder zurück. Eine gewisse Planungssicherheit sollte schon da sein, bevor man in ein solches Invest geht.
Fehlende Planungssicherheit hat man auch der Ampel-Regierung vorgeworfen. Was erwarten Sie ab kommender Woche?
In erster Linie genau das. Planungssicherheit ist für die Industrie essenziell – gerade in Zeiten großer Transformationen. Ich erwarte von einer neuen Bundesregierung daher keine Subventionierung energieintensiver Betriebe, sondern verlässliche und langfristig stabile Rahmenbedingungen. Wir sind ein marktwirtschaftliches Unternehmen und setzen auf Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation und Effizienz. Subventionen sind nichts, wonach wir streben. Das können wir uns als Gesellschaft auch nicht leisten.
Was muss also kommen?
Es ist essentiell, dass sich insbesondere bei den Netzentgelten etwas bewegt, denn die sind nicht nur heute ein Thema, sondern werden auch in Zukunft eines sein. Allein der Wegfall der Förderung Anfang 2024 hat Benteler Steel/Tube mehr als 10 Millionen Euro gekostet. Da der Standort Lingen den mit Abstand höchsten Stromverbrauch hat, betreffen die Mehrkosten vor allem das Emsland.
Das ist eine Hausnummer.
Hohe Netzentgelte treffen aber nicht nur die Industrie, sondern auch den Endverbraucher. Auch er würde somit von niedrigeren Netzentgelten profitieren. Hinzu kommt, dass die Politik die grüne Transformation ganzheitlich denken muss. Das wurde zu wenig getan. Wir brauchen neben dem Ausbau der Erneuerbaren grundlastfähige Gaskraftwerke, die man in Zukunft vielleicht auf Wasserstoff umstellen kann, wenn das preislich lukrativ ist. Und was stärker kommen wird, sind batterieelektrische Speicher. Das sehen wir schon heute.
Auch bei Benteler?
Auch wir investieren an unseren Standorten, um Stromspitzen tagsüber abzufangen. Der Standort Lingen ist dafür allerdings nicht geeignet, weil der Bedarf so gigantisch groß ist. Aber in den beiden Walzwerken ist das interessant. Und es rechnet sich heute schon. Eine Kombination aus Gaskraftwerken und elektrischen Speichern, das muss die Lösung sein, wenn wir grün werden wollen.
Ist grüner Stahl möglich? So will Benteler in Lingen CO2-arm produzieren
„Grün“ will auch Benteler in der Stahlproduktion werden. Nicht nur mit grünem Strom, sondern perspektivisch auch grünem Wasserstoff. Wie weit sind Sie?
Wir verbrauchen rund 525 Gigawatt Erdgas bei Benteler Steel/Tube in Deutschland, die perspektivisch durch grünen Wasserstoff ersetzt werden sollen. Wir sichern uns schon heute die Abgänge des Kernnetzes von den Niederlanden ins Ruhrgebiet. Der Standort Dinslaken könnte 2028 angeschlossen werden, Lingen schon ein oder zwei Jahre eher. Wir werden aber auch unter anderem unser Verteilnetz in den Betrieben erneuern müssen. Das wären für uns als Benteler Steel/Tube sicherlich dreistellige Millionenbeträge. Aber heute ist der Wasserstoff ehrlicherweise noch nicht da, lediglich die Idee. Und er ist auch im Preis deutlich teurer.
Inwiefern?
Die Preise schwanken zwischen 6 und 12 Euro das Kilo. Bei 6 Euro wäre Wasserstoff schon zweieinhalb Mal so teuer wie Gas. Bei 12 Euro müssen wir über eine Substitution gar nicht nachdenken. Inwiefern wir künftig Wasserstoff einsetzen werden, wird also auch davon abhängen, ob er preislich wettbewerbsfähig produziert werden kann. Schon jetzt gibt es nur vereinzelt Kunden, die in ihrer heutigen wirtschaftlichen Situation bereit sind, einen Mehrpreis für grüneren Stahl zu zahlen.
Nun ist Lingen „Wasserstoff-Hauptstadt“, die Pilotanlage zur Produktion steht quasi direkt nebenan. Bringt das keine Vorteile?
Zum Teil. Die Versuchsanlage speist in die Pipeline und Speicher ein. Und an diese Pipeline möchten wir uns hängen. Eine Direktleitung ist nicht möglich. Man muss den Wasserstoff aus dem großen Netz beziehen, um auch die Schwankungen abzufedern. Das ist sinnvoller als Einzelanschlüsse.
Inwieweit halten Sie von diesem Hintergrund an Ihren Klimazielen fest?
Wir wollen als Gesamtkonzern und auch im Stahl/Rohr-Bereich konsequent grüner werden, ganz klar. Stand heute sind wir voll auf dem Weg, mit Power-Purchase-Agreements (PPAs) für Grünstrom, biogener Kohle, Wasserstoff und vielem mehr grüner zu werden. Aber was wir produzieren, muss auch abgenommen werden. Die Entscheidung, wie grün die Stahlerzeugung wird, trifft letztlich der Markt.
Gibt es Ambitionen, selbst grünen Strom zu produzieren, beispielsweise durch den Bau eines Solarfelds?
Mit einem Solarfeld nicht, aber bezüglich Windrädern sind wir mit der Stadt Lingen und umliegenden Firmen in der Diskussion, inwieweit es Möglichkeiten gibt, auf unserem Gelände oder auf Nachbargeländen Windkraftanlagen zu errichten. Diesen Strom könnten wir zu 100 Prozent nutzen – und dafür müssten wir auch keine Netzentgelte zahlen. Die Menge, die wir im Elektrostahlwerk brauchten, könnten wir aber nie komplett selbst erzeugen.
In die Zukunft geschaut: Wie wettbewerbsfähig sind deutsche Standorte wie Lingen?
Lingen ist ein sehr effizienter Standort, weniger als 300 Mitarbeitende könnten hier im Jahr bis zu 670.000 Tonnen Stahl produzieren. Und das nachhaltig aus Schrott. Damit sind wir in Sachen Nachhaltigkeit schon jetzt deutlich besser aufgestellt als der Wettbewerb auf der Hochofenroute. Und dadurch, dass wir mit zwei Walzwerken eigene Abnehmer für das Stahlwerk haben, ist die Grundauslastung immer da. Das Stahlwerk ist also wettbewerbsfähig, auch im europäischen Vergleich.
Sind die deutschen Standorte also sicher?
Wir sind nicht so kleinteilig aufgestellt wie andere, insofern müsste schon sehr viel passieren, um sich über Standorte Gedanken zu machen. Zumal viele Vermögenswerte in den Werken stecken. Solche Produktionsstätten verlegt man nicht so schnell. Aber natürlich machen uns die Energiekosten, aber auch die Lohnkosten zu schaffen. Bei letzterem geht es gar nicht um die Höhe der Stundenlöhne, sondern eher um die Arbeitszeit. Hinzu kommt, dass weniger junge Leute in die Industrie wollen.